Der bekannte Spruch Survival of the fittest wird häufig verwendet, um die Darwin’sche Evolutionstheorie zu erklären. Die stärkste, schnellste, klügste Person ist es schließlich, die langfristig ihre Eigenschaften an den menschlichen Genpool weitergibt. Dabei wird allerdings häufig einer der wichtigsten Bestandteile dieser Aussage aus und vorgelassen: the fittest. Ganz im Gegenteil zu unserer heutigen Gesellschaft und deren Fitness-Trends geht es in der Evolutionstheorie nicht darum, wer am sportlichsten, schnellsten oder kräftigsten ist, sondern vielmehr wer am anpassungsfähigsten ist. Ok alles klar, das ist jetzt nicht wirklich bahnbrechend. Viel spannender ist aber die Folgefrage: was zeichnet einen anpassungsfähigen Menschen aus?
Genau hier kommt Kreativität ins Spiel. Mittlerweile ist man sich in der Wissenschaft weitestgehend einig, was sich hinter dem Begriff verbirgt: die Fähigkeit, eine neue, wertvolle und passende Idee zu entwickeln.1,2 Und da macht es Klick! Um der oder die Fitteste zu sein, ist es entscheidend kreativ zu sein, denn kreative Menschen entwickeln neue, wertvolle und passende Ideen, um aktuelle Probleme zu lösen und die Gesellschaft somit voranzubringen. Auch wenn es nicht zwingend um das blanke Überleben geht, solltest du spätestens jetzt einen gewissen Drang zur Kreativität verspüren, denn sie ist es, die dich voranbringt.
Aber wie genau wird man kreativ bzw. fit?
Erste gute Nachricht: Kreativität ist keine Eigenschaft, die nur bestimmten Personen aufgrund ihrer Gene zuteilwird. Ganz im Gegenteil, jede Person besitzt kreative Eigenschaften und kann diese – gute Nachricht Nummer zwei – auch fördern!3,4 Eine Möglichkeit eines solchen kreativen Workouts stellt dabei der kreative Prozess dar, den man aktiv trainieren und einsetzen kann.
Der kreative Prozess (aka das kreative Workout)
Kennst du die folgende Situation? Du sitzt am Schreibtisch und dir fällt partout keine Lösung für dein Problem ein? Du zermarterst dir förmlich den Kopf, aber es will und will dir einfach nichts einfallen. Schließlich knickst du ein und gibst auf. Problem 1 – du 0. Solche Tage gibt es eben. Du resignierst und trittst den Rückzug in die Küche an. Dort räumst du die Geschirrspülmaschine aus, putzt den Herd und ach ja, der Müll muss ja auch noch rausgebracht werden. Und da passiert es! Gerade als du den Abfall in die Tonne pfefferst, fällt es dir ein. Du legst einen kurzen Sprint zurück an den Schreibtisch ein, um die Idee so schnell wie möglich aufzuschreiben, bevor sie womöglich noch vergessen wird.
Gute Nachricht Nummer drei: das ist kein Zufall! Selbst wenn sogenannte Aha-Momente sich oft wie spontane Eingebungen anfühlen, sind sie gar nicht einmal so spontan. Zugrunde liegt dem ganzen nämlich ein kognitiver Prozess, der von Graham Wallas5 wunderbar zusammengefasst wurde.
Die vier Phasen des Kreativitäts-Modells von Graham Wallas
Mit Hilfe der Grafik lassen sich deine Erfahrungen einsortieren. Die frustrierende Szene zu Beginn am Schreibtisch stellt die Vorbereitungsphase (preparation) dar. Man fokussiert sich auf ein bestimmtes Thema, sammelt dazu Informationen und stößt auf ein Problem, welches es zu lösen gilt. Da man jedoch zu scheinbar keiner Lösung kommen kann, gibt man auf und führt eine anderweitige Tätigkeit aus. Dies ist die zweite Phase des Prozesses (incubation), in der man sich aktiv vom Problem distanziert. Das eigene Unterbewusstsein arbeitet nichtsdestotrotz weiter an der Problematik und entwickelt – Aha! – eine Lösung, die einem selbst wie ein Licht aufgeht (illumination). Schließlich geht es in der letzten Phase (verification) darum, die Lösung auf ihre Anwendbarkeit zu überprüfen.5
Der Prozess klingt für dich zwar ganz nett, aber ein wenig aus der Luft gegriffen? Dann sind die neurowissenschaftlichen Hard facts vielleicht etwas für dich. Ganz im Gegenteil zu dem Glauben, man hätte eine kreative und eine analytische Hirnhälfte, arbeiten in unserem Kopf verschiedene Hirnareale in Netzwerken zusammen. Bezogen auf den kreativen Prozess spielen dabei drei solcher Netzwerke eine Schlüsselrolle: das Executive Network, das Default-Mode Network und das Salience Network.
Während das Executive Network bei vorausschauenden und hoch konzentrierten Denkprozessen aktiviert wird, schaltet sich das Default-Mode Network stattdessen bei konzentrationsarmen Denkprozessen, wie dem Duschen oder Geschirrspülmaschine ausräumen ein, und verarbeitet dabei unbewusst Informationen. Das Salience Network ist schließlich dafür zuständig relevante Informationen zu erkennen und sie aus der Zahl an Ideen, die das Default Mode Network produziert, herauszufischen. Somit wird zu Beginn und zu Ende des kreativen Prozesses das Executive Network aktiviert, während das Default-Mode Network in der scheinbar unproduktiven Phase neue Ideen kreiert, die nachfolgend vom Salience Network gesichtet und ausgewählt werden.6,7,8
Für den kreativen Prozess wichtige neuronale Netzwerke
Das kreative Workout – praktisch angewandt
Das Schöne daran ist, dass man sich dieses Wissen selbst und gleichzeitig für andere zu Nutze machen kann: sozusagen als kreatives Workout in seinen Alltag einbauen. Für den Unterrichtsalltag bedeutet es, dass wir uns und unsere Lernenden vorrangig für den kreativen Prozess und dessen einzelne Phasen sensibilisieren müssen. Denn um ein sportliches Workout durchzuführen, muss man die Übungen ja auch erst einmal kennen und beherrschen. Anschließend können sie dann angewendet werden, um die eigene Fitness zu trainieren.
Hilfreich kann das Wissen über den kreativen Prozess beispielsweise dann werden, wenn Kinder und Jugendliche Denkblockaden im Lernen erreichen und Frustration gegenüber dem Unterricht und sich selbst aufbauen: „Mir fällt einfach nichts ein. Ich kann das nicht! Ich bin so unkreativ…“ Wenn ihnen in solchen Momenten jedoch vermittelt werden kann, dass dies eine ganz normale Reaktion ist, die durch eine kurze Pause und eine Ablenkung durch anderes überkommen werden kann, lässt sich eine solch negative Gefühlslage in Produktivität (und vor allem Kreativität) umwandeln.9
Gleichzeitig bedeutet dies allerdings auch, dass die Lernumgebung sowie die Unterrichtsgestaltung eine solche Flexibilität im Lernprozess aushalten muss. Ganz pragmatisch betrachtet, sind hierfür zeitliche wie räumliche Flexibilität von Nöten. Lernende müssen die Möglichkeit haben, selbst Pausen zu wählen, wenn sie diese benötigen, und gleichzeitig über Orte verfügen, an denen sie entweder hochkonzentriert an Lösungen arbeiten oder konzentrationsarmen Tätigkeiten nachgehen können. Umsetzen lässt sich dies bereits im gewöhnlichen Klassenzimmer, in dem Lernende ihren Lernprozess zeitlich selbst strukturieren dürfen, Aufgaben auf die Zeit zu Hause verlegen oder die Möglichkeit haben auf dem Pausenhof frische Luft zu schnappen.9
Das gleiche kreative Workout gilt natürlich auch für einen selbst – ganz im Sinne von Survival of the fittest. Mach doch einfach mal jetzt eine kurze Pause, geh eine Runde spazieren oder leg ein Powernap ein. Wer weiß, vielleicht hast du ja deine nächste bahnbrechend kreative Idee. Falls nicht, bist du immerhin entspannt.
Quellen:
- Beghetto RA, Kaufman JC. Toward a broader conception of creativity: A case for “mini-c” creativity. Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts. 2007;1(2):73-79. doi:10.1037/1931-3896.1.2.73
- Simonton DK. Taking the U.S. Patent Office Criteria Seriously: A Quantative Three-Criterion Creativity Definition and Its Implications. Creativity Research Journal. 2012;24(2-3):97-106. doi:10.1080/10400419.2012.676974
- Beghetto RA, Kaufman JC. Classroom contexts for creativity. High Ability Studies. 2014;25(1):53-69. doi:10.1080/13598139.2014.905247
- Benedek M, Karstendiek M, Ceh SM, et al. Creativity myths: Prevalence and correlates of misconceptions on creativity. Personality and Individual Differences. 2021;182:111068. doi:10.1016/j.paid.2021.111068
- Wallas G. The Art of Thought. Solis Press; 2014.
- Beaty RE, Kenett YN. Die Entstehung der Ideen. Gehirn & Geist. 2021;8:14-17.
- Immordino-Yang MH. Emotion, Sociality, and the Brain’s Default Mode Network: Insights for Educational Practice and Policy. Policy Insights from the Behavioral and Brain Sciences. 2016;3(2):211-219. doi:10.1177/2372732216656869
- Menon V. Large-scale brain networks and psychopathology: a unifying triple network model. Trends in Cognitive Sciences. 2011;15(10):483-506. doi:10.1016/j.tics.2011.08.003
- Böttger H, Költzsch D. Neural foundations of creativity in foreign language acquisition. TLC. 2019;3(2):8-21. doi:10.29366/2019tlc.3.2.1