Liebe Jennifer,
vielen Dank, dass du dir die Zeit für das Interview zum Thema Flipped Classroom nimmst. Wir sind auf dich aufmerksam geworden, da du bei Instagram eine Bilanz nach einem Jahr Flipped Classroom gezogen hast. Gerne würden wir von deinen Erfahrungen hören.
Stelle dich doch gerne einmal kurz vor und erzähle uns, wie du auf das Thema „Flipped Classroom“ gekommen bist:
Gerne! Ich unterrichte die Fächer Mathe und Informatik an einem Berliner Gymnasium, wo ich in den Klassen 5 bis zum Abitur eingesetzt bin. An meiner Schule bin ich sehr engagiert im Bereich des digitalen Lernens und Lehrens, gebe Mikrofortbildungen für meine Kolleginnen und Kollegen und bin in diesem Jahr zusammen mit einer wundervollen Kollegin Klassenleitung unserer ersten Tablet-Klasse. Eine sehr spannende Zeit! Lernen unter den Bedingungen der Digitalität ist einfach ein Herzensthema für mich. Das Thema Flipped Classroom spukte schon viele Jahre in meinem Kopf herum. Um genau zu sein, hat es mit einem Vortrag von Sebastian Schmidt auf der Didacta 2019 begonnen. Das hat mich total inspiriert und ich wusste in dem Moment: Das will ich auch machen!
Welche Schritte hast du genommen, um zu starten? Wie bist du das Thema angegangen?
Mark Twain hat gesagt: “The secret of getting ahead is getting started”. Das ist eines meiner Mottos. Einfach machen - erst dann weiß man, wo die Reise hingeht. Nur wer sich traut, auszuprobieren und in Kauf nimmt, zu scheitern, hat die Möglichkeit, Großartiges zu entdecken. Ich bin also am Anfang des Schuljahres in meinen Grundkurs Mathematik gegangen und habe ihnen das Konzept erklärt und welche Auswirkungen das auf den Unterricht und die Arbeit zu Hause hat. Ich habe ganz transparent gemacht, dass das auch für mich eine neue Erfahrung ist und ich es schon lange ausprobieren wollte. Es war klar, dass wir regelmäßig über Probleme, Kritik und Verbesserungsmöglichkeiten sprechen und spätestens nach dem 1. Halbjahr gemeinsam die Entscheidung treffen, ob wir das Modell weiterführen möchten. Meine Schülerinnen und Schüler hatten also einen riesigen Anteil am Gelingen und ich bin ihnen für ihr vielfältiges Feedback und ihr Vertrauen sehr dankbar.
Wie sieht eine Unterrichtseinheit mit der Flipped Classroom Methode aus? Erzähle uns doch gerne an einem Beispiel, was du als Lehrkraft vorbereiten musst, was die Schüler*innen zu Hause erarbeiten und wie dann die Unterrichtsstunde aussieht:
Ich habe mich dafür entschieden, alle Videos selbst zu drehen, was ja erstmal ein ordentlicher Aufwand ist. Dennoch gibt es entscheidende Vorteile: Ich kann die Videos exakt an das anpassen, was ich gerade thematisieren möchte. Ich weiß genau, welche Fachbegriffe und -sprache ich von meinen Schülerinnen und Schülern hören möchte und kann das im Video vorgeben. Ich habe also ein bis zwei Videos (maximal 10 Minuten insgesamt) gedreht, hochgeladen und den Link an meine Lerngruppe weitergegeben. Die Videos enthielten neue Inhalte, die noch nicht besprochen worden waren. Im Unterricht sind wir mit einem kurzen Feedback gestartet: War alles verständlich? Gab es Probleme? Hat euch eine Info gefehlt? Wenn alles geklärt war, ging es direkt in Übungsaufgaben. Da es ein Kurs ist, der jetzt Abitur macht, ist das routinierte Lösen von Aufgaben unglaublich wichtig und dafür hatten wir richtig viel Zeit. Zeit für Aufgaben, die dann doch etwas Umdenken und Kopfarbeit benötigen. Zeit zum Diskutieren von verschiedenen Lösungswegen und Zeit, um ausgiebig über Aufgaben zu sprechen. Das war toll, denn es gibt ein riesiges Problem in der Schule, das wir alle kennen: zu wenig Zeit. Wir haben also ganz viel gerechnet und die Aufgaben wurden von den Schülerinnen und Schülern präsentiert und besprochen. Am Ende habe ich die Ergebnisse in einem gemeinsamen digitalen Notizbuch für alle hochgeladen.
Wie hat sich deine Rolle als Lehrkraft im Flipped Classroom Modell geändert?
Eigentlich gar nicht so sehr. Das liegt aber daran, dass ich mich schon immer als Begleiter eines Lernprozesses empfunden habe. Schon im Referendariat wurde mir gesagt, wie ungewöhnlich es ist, dass meine Lernarrangements so geplant sind, dass ich mich fast überflüssig mache und im Hintergrund agiere. Die Verantwortung für den Prozess lag schon immer fast vollständig bei meinen Schülerinnen und Schülern und diese Selbstständigkeit wird im Flipped Classroom umso mehr eingefordert. Der Flipped Classroom passte daher genau in mein Selbstverständnis vom Lehrerberuf.
Nach einem Jahr Flipped Classroom… Was ist deine Bilanz? Was sind Vor- oder Nachteile im Vergleich zu den Kursen, die du „traditionell“ unterrichtet hast?
Häufig ist es so, dass Schülerinnen und Schüler im Unterricht denken, sie haben etwas verstanden, dann aber zu Hause vor Aufgaben sitzen und da merken, dass es doch nicht der Fall ist. Der Übungseffekt bleibt also aus, denn in der nächsten Stunde geht es ja schon weiter. Dadurch, dass die Übung im Unterricht stattfindet, kommt jeder ins Üben - und es ist genug Zeit, auf Fallstricke einzugehen oder Verständnisprobleme zu klären. Gleichzeitig waren alle Inhalte für die Klausuren online in Videos oder als Material im digitalen Notizbuch verfügbar - die Vorbereitung wurde demnach sehr vereinfacht. Insbesondere das Angebot an Videos wurde intensiv genutzt vor der Klausur. Die Aufrufzahlen schossen in der Zeit geradezu in die Höhe ;-) Nachteile? Nun gut, man ist davon abhängig, dass die Hausaufgaben erledigt werden, dass die Schülerinnen und Schüler die Videos also auch anschauen. Eine Wiederholung der Inhalte im Unterricht ist ja nicht Sinn der Sache. Das war aber tatsächlich eher kein Problem - die Lerngruppe war immer sehr dankbar für das Videoangebot.
Falls eine Lehrkraft die Methode gerne mal im eigenen Unterricht ausprobieren würde, was würdest du dieser Person raten? Welche Tipps würdest du ihr mit auf den Weg geben?
Einfach ausprobieren und das auch ganz offen mit der Lerngruppe besprechen. Ganz wichtig: Nicht an den großen Playern auf YouTube orientieren. Niemand braucht am Anfang irgendwelche besonderen Effekte in den Videos. Eine einfache kommentierte Bildschirmaufnahme reicht völlig aus und spart wichtige Ressourcen. Für einen ersten Durchgang würde ich eher ältere Jahrgangsstufe wählen, die Oberstufe ist da vermutlich eine gute Wahl. Ansonsten kann ich nur empfehlen, den Schülerinnen und Schülern gut zuzuhören, ihre Kritik ernst zu nehmen und umzusetzen. Das geht natürlich nur, wenn man Feedback einfordert. Wenn die Lerngruppe sich ernst genommen fühlt, dann steigt auch die Akzeptanz für die Arbeit mit dem Flipped Classroom. So konnte ich z. B. schnell herausfinden, dass 10 Minuten für ein Video einfach zu lang sind und die Lerngruppe sich Videos in der Länge von ca. 3 Minuten wünscht. Und so etwas ist wichtig zu wissen für das Gelingen. Am Ende ist der wichtigste Rat: Einfach ganz viel Spaß haben und die neue Art des Unterrichts genießen.